Sehr geehrte Damen und Herren,

darf ich Ihre Aufmerksamkeit beim heutigen Bier des Tages auf ein bisher zumeist fehlinterpretiertes Tagelied des oberösterreichischen mittelalterlichen Dichters Dietmar von Aist lenken. Ein, wie Sie nach meinen Ausführungen erkennen müssen, deutliches Beispiel aus der Gattung der Cantica Cervisiae:

„Slâfest du, friedel ziere?
man wecket uns leider schiere.
ein vogellîn sô wol getân,
daz ist der linden an daz zwî gegân.“

„Ich was vil sanfte entslâfen,
nu rüefest du kint ‚Wâfen‘.
liep âne leit mac niht gesîn.
swaz du gebiutest, daz leiste ich, friundîn mîn.“

Diu frouwe begunde weinen:
„Du rîtest und lâst mich eine.
wenne wilt du wider her zuo mir?
ôwê, du füerest mîn fröude sament dir!“

Nun also, was will uns der Dichter sagen? Sehr wohl handelt es sich um ein Trinklied, dass eine zu der Zeit beliebte Brauerei zum Thema hat: Friedel ist der Name des Bräus. Als Tagelied kommen nun unsere beiden Protagonisten schon zu morgendlicher Stunde aus jenem Brauhaus in Zentbechhofen. Die Kadenz ist alternierend weiblich voll und männlich. Der weiblich volle Beginn legt nahe, es handle sich bei dem besungenen Getränk um das helle Vollbier der Brauerei. Der grüne Lindenbaum, der in der ersten Strophe Erwähnung findet stellt wohl auf die grasgrüne Hopfengabe ab, sind doch Hopfen und Linde beide grün und hochwachsend. Das Vögelein als Wesen der Lüfte symbolisiert zweifelsohne die Tatsache, dass beim Vollbier dieser Hopfenduft sehr deutlich ausgeprägt ist.
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Und diese Bitterkeit des Hopfens setzt nun in der zweiten Strophe den Kontrapunkt zum „sanften Schlaf“. Wiewohl Hopfen beruhigend wirkt, ist mit „sanfte“ das helle, sanft gedarrte Malz gemeint. Vers 3 dieser Strophe macht nun auch die ganze Geschmacksbreite des Vollbiers deutlich: „liep âne leit mac niht gesîn.“ Will heißen: ein süffiger Geschmack mag ohne die Bitterkeit des Hopfens nicht erreicht werden. Und tatsächlich findet sich auch heute noch im Vollbier eine deutliche Hopfenbittere, die das hellmalzige Aroma dominiert. Nicht so herb, wie bei einem Pils, aber doch unüberriechbar und unüberschmeckbar.

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Die dritte Strophe macht nun das ganze Ausmaß der Tragödie um zwei Personen und ein Bier überdeutlich. Die Frau beginnt zu weinen, weil – und hier möchte ich Sie bitten Ihr Augenmerk wieder auf den Text zu legen – sie nicht weiß, wann der enteilende Mann zurückzuerwarten sei. Dem könnte man entgegnen, er möge doch bedenkenlos gehen, solange das Friedel sich bei der Frau befinde. Dagegen spricht aber die Intention des männlichen Protagonisten: „ôwê, du füerest mîn fröude sament dir!“ Dieser Vers zeigt in aller Deutlichkeit, dass der Mann, der sich nach einer gemeinsam durchzechten Nacht nun zu gehen anschickt, das restliche Friedel Vollbier mit sich nimmt. Der holden Dame bleibt nichts anderes, als zu schluchzen. Ob sie jedoch mehr den Abgang des Mannes oder den Verlust des Bieres beklagt, lässt der Dichter offen.

Für Ihre Aufmerksamkeit möchte ich mich bedanken und Sie gerne zum Genuss eines Friedel Vollbiers einladen.