Hier ist deine Cousine, das Natürlichkeitsgebot. Sag mal, wie geht es dir eigentlich? Ich habe schon so lange nichts von dir gehört. Alles ok bei dir?
Ich weiß, man beginnt eine Gratulation nicht mit solchen Fragen. Eigentlich sollte ich schreiben: „Hey, liebes Reinheitsgebot, alles Gute zum Geburtstag! Wie gut, dass es dich gibt! Kopf hoch, alles wird gut!“
Aber ich schätze, dir wie mir ist gerade nicht so nach solchen platten Sprüchen. Nicht nur, dass auch heute an deinem Ehrentag wieder mehr über die Pandemie und Maßnahmen dagegen gesprochen und gestritten wird, anstatt dass man deinen Geburtstag feiert. Dabei galt dein Geburtstag doch mal einer gefühlten Mehrheit im Land als hochheiligster Feiertag! Und weißt du noch, du konntest dich vor Gästen kaum noch retten. Kein Politiker (ja, meistens waren es Männer, deshalb gendere ich das hier bewusst nicht!), der nicht zu deinen Ehren einen gut gefüllten Krug Freibier hob! Und überall saßen Menschen in den Biergärten und auf Plätzen und tranken und tranken …
Und jetzt? Jetzt feierst du schon deinen zweiten Geburtstag ohne solche Feste. Und ohne solche Gäste. Aber vielleicht waren die ganzen Politiker und Gäste ja auch mehr am Freibier interessiert als an dir? Jedenfalls bestimmen jetzt ganz andere Bilder und Nachrichten die Schlagzeilen. Statt feiernder Massen laufen Videos durch die sozialem Medien, in denen Brauer ihr Bier, gebraut nach deinen „heiligen“ Regeln, öffentlichkeitswirksam in den Gully kippen. Dabei hattest du dich doch immer gerühmt, dass nur deinetwegen aus einem schnöden Getränk ein international geachtetes Spitzenprodukt wird. Ja, dass Bier nur deshalb überhaupt gut schmecke, weil es nach deinen Regeln gebraut wurde.
Aber es gibt ja nicht nur diese Bilder, liebes Reinheitsgebot. Es gibt nicht nur die geschlossenen Gastwirtschaften und leeren Biergärten. Es gibt auch positive Bilder: Die Menschen entdecken Neues, verlassen eingetretene Pfade. Wir entdecken neue Arten zu arbeiten, neue Arten mit Freunden in Kontakt zu bleiben, sogar in Sachen Mobilität switchen mehr und mehr Leute vom Auto aufs Rad. Und auch beim Bier gehen Brauereien neue Wege: Online-Verkauf und Online-Tastings boomen. Während Hektolitermillionäre ihre Kisten im Handel verramschen, legen Bio-Brauereien zu. Regionalität wird plötzlich wieder wichtig. Und auch Kreativität. Beim Vermarkten genauso wie beim Brauen.
Vielleicht, liebes Reinheitsgebot, ist jetzt der Zeitpunkt, unser Verhältnis zueinander neu zu überdenken. Du hast Angst, dass uns eine riesige Welle an Brauereischließungen droht. Wir auf der anderen Seite sehen kleine Startups und mittelständische Brauereien, die mit natürlichen Zutaten, kreativen Bieren und auf neuen Wegen ihre Nische und ihre Kunden finden. Ich weiß, das wird eine ganze Branche alleine nicht retten. Aber ist es nicht gut und wichtig, wenn möglichst viele Brauereien diese Krise überleben – egal, ob sie jetzt ein Pils oder ein Wit, ein Dunkles oder ein Milkstout brauen?
Liebes Reinheitsgebot, ich weiß, dass ich dir auch letztes Jahr schon gesagt hatte, dass wir zusammen irgendwie auch durch diese Krise kommen. keine Ahnung, ob du mir das glaubst oder nicht. Wir versuchen jedenfalls unseren teil dazu beizutragen, dass die Bierlandschaft in Deutschland auch in Zukunft so bunt und so vielfältig bleibt, wie wir sie lieben. Und es wäre schön, wenn du mal den Hardlinern unter deinen Anhängern ein wenig ins Gewissen reden könntest, uns dabei keine Steine in den Weg zu legen. Deshalb, liebes Reinheitsgebot, mein Vorschlag: Liebes Reinheitsgebot, wenn der ganze Spuk irgendwann mal vorüber ist, dann lass uns zusammensetzen und gemeinsam eine Basis für ALLE Brauereien in diesem Land schaffen. Für die, die gerne nach deinen Regeln brauen, genauso wie für die, die gerne nach dem Natürlichkeitsgebot brauen wollen. Denn, liebes Reinheitsgebot, um unsere Vielfalt zu erhalten, wird es so viele Brauereien wie möglich brauchen.
Euch wie uns!In diesem Sinne, liebes Reinheitsgebot, habe einen schönen, stillen Geburtstag!Ich hebe mein Glas (unreines ) Bier auf dich!Deine Cousine,
das #Natürlichkeitsgebot
#natürlichgehtmehr
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