Ich bleibe mal in Würzburg. Das letzte Bier des Tages war ja das Rotwild von Max Mundus, heute schiebe ich dem kastanienbraunen Kellerbier ein helles, unfiltriertes Lager hinterher. Genauer gesagt ein Retro Lager.
Da fragt sich der geneigte Biertrinker ja schon, was das sein soll: ein Retro Lager. Ich muss ja gestehen, dass ich bei Retro Lager ein bestimmtes Bild im Kopf habe – und nicht unbedingt ein gutes. Schließlich ist der Markt überschwemmt von recht eintönigen hellen Lagerbieren mit Etiketten, die irgendwo aus den Sechszigern oder Siebzigern zu kommen scheinen und die alle irgendwie an die gute alte Zeit des Bierbrauens anknüpfen wollen. Damals als Männer noch aufstanden und sich auf der Baustelle zum Frühstück ein Bier aufgemacht hatten. Ja, da war der Bierabsatz noch in Ordnung. Da hatte jeder Ort mehr als eine bRauerei. Da durfte man noch damit werben, dass Bier bekömmlich sei. Daran wollte Tucher zum Beispiel mit seinem Retro Lager Grüner anknüpfen und durfte gleich mal die treu nach dem alten Vorbild designten Bierkästen wieder einstampfen. Das verbinde ich mit dem Begriff Retro Lager. Eigentlich kein guter Ausgangspunkt für einen objektiven Biertest.
Aber von Anfang an: Das Herbipolis Retro Lager kommt nicht gerade von einem Unbekannten der Craftbierszene. Der gebürtige Amerikaner Chris Sullivan war zum Beispiel mal erster Braumeister bei Maisel & Friends und hat dort das beliebte Citrilla mitentwickelt. Bei Stone in Berlin war er auch mal, wenn ich es richtig verstanden habe, und braut mit seinem Outlaw’d Collaborations Projekt interessante Biere jenseits des Reinheitsgebots. Und dann hat er auch das SMaSH Brewing Project … Und das versteht sich als eine Art „Biererziehungsinstitut“. Auf der eigenen Facebook-Seite liest sich das so:
SMaSH Brewing Project was created to fill an important gap which is generally lacking in the German craft brewing revolution: Beer Education.
Ok., da ist was dran. Der Deutsche an sich und vor allem der Franke trinkt gerne Bier (wobei auch das weniger wird) und redet auch gerne darüber. Aber zumeist halt in der Kategorie „schmeckt“ oder „schmeckt nicht“ oder vielleicht auch „geiles Etikett“ und „super Leberkäse …“. Also mit viel Leidenschaft, aber nicht immer mit viel Sachverstand. Da kann man schon was machen.
Das mit dem „geilen Etikett“ könnte man beim Herbipolis Retro Lager durchaus so stehen lassen. Name und Etikett setzen sich nämlich wohlturend von der üblichen Retro-Welle ab. Zum einen, weil auf dem Etikett alles steht, was einen Bierliebhaber interessieren könnte: Stammwürze (11.6 %), Alkoholgehalt (4,8 %), Hopfensorte (Tettnanger), Malzsorte Pilser Malz Barke), Hefestamm (W34/70), Bittereinheiten (35 IBU), sogar der Brauort (Raab/Hofheim) ist verzeichnet! Cool!
Zum anderen geht man im Design nicht in die Fünfziger, sondern locker mal ins fünfzehnte Jahrhundert! Das Etikett ziert nämlich die Abbildung Würzburgs aus der Schedelschen Weltchronik. Diese 1493 erstmals in Nürnberg erschienene und vom Nürnberger Stadtarzt und Humanisten zusammengestellte „Weltgeschichte“ wollte nichts weniger als die komplette Weltgeschichte von (wörtlich!) Adem und Eva bis ins Jahr 1492/93 nebst allen wichtigen Genealogien, Beschreibungen ganzer Länder sowie natürlich der wichtigsten Städte der Welt mit oftmals realistischen Stadtansichten. Ein Buch der Superlative … Wenn man so wie ich nicht nur einen ausgeprägten Bier-, sondern auch einen Buchfetisch hat.
Zu den wichtigsten Städten der Welt (zumindest für den Franken Schedel) gehörte damals auch Herbipolis, also Würzburg. Eigentlich ist diese latinisierte Übersetzung des Namens Würzburg ein Fake … oder sagen wir eine historisierende Ungenauigkeit. Oder noch schöner ausgedrückt: Ein mittelalterlicher Retro-Trend. Es ist eine wörtliche Übersetzung des Namens Würzburg, wobei in der Forschung nicht sicher ist, ob sich der Namensbestandteil „Würz“ tatsächlich auf Kräuter und Gewürze bezieht. Das nur mal so am Rande. Der Name ließe sich genauso schlüssig durch den lateinischen Namen Virtus oder keltische Begriffen wie werz (Jungfrau) oder uird (Berg/Höhe) erklären.
Dem Herbipolis Retro Lager ist dieser Namensstreit allerdings wurst. Oder nicht ganz, denn neben Pilsner Malz aus der alten Getreidesorte Barke wird hier nur Tettnanger Hopfen verbraut. Daraus erklärt sich übrigens auch der Name dieses Biers: SMaSH bedeutet nichts anderes als Single Malt and Single Hop! Und sowohl das Barke-Malz als auch der Tettnanger Hopfen sind typisch deutsche und vor allem auch typisch „alte“ Zutaten. Wollte man sich also einem Lagerbier-Geschmack aus der guten alten Zeit nähern, ist es durchaus sinnvoll, solche Zutaten zu verwenden. Ich liebe ja den Tettnanger Hopfen, seitdem wir mal an einem kalten Januarmorgen ein mit wahnsinnig viel Tettnanger Hopfen gebrautes Lagerbier gebastelt hatten. Das schön blumige und vor allem auch kräuterwürzige Aroma des Hopfens brennt sich einem ein, wenn man ihn mal in Reinform in einem Bier genießen konnte. Und genau das Geschmacksprofil hat man auch wieder im Herbipolis Retro Lager. Das mit der Geschmackserziehung funktioniert also durchaus. Von Anfang an hat man bei dem golden-trüben Bier ein schönes, volles Malz- und Hopfenaroma im Mund. Citrus hier, Kräuter da, eine getreidige, leicht weißbrotige Basis, dazu ein Anflug von Hefe. Alles da, was ein Bier braucht. Nicht zu viel, nicht zu wenig. Im Gegenteil: Dadurch, dass man sich nur auf den Tettnanger Hopfen fokussieren kann, gewinnt das Bier. Und durch sein Volumen, denn von den versprochenen 35 Bittereinheiten schmeckt man eigentlich nicht viel. Man muss das – aufgemerkt: beer education! – nämlich mal so sehen: 35 Bittereinheiten wären sogar für ein sattes heimisches Pils recht ordentlich. Für ein helles Lager sind sie weit mehr als man gewohnt ist. Oder wären es, denn so richtig durch kommen sie nicht. Das macht das Bier süffig, angenehm ausbalanciert, aber irgendwie bleibt da das Gefühl, es könne mehr „Wumms“ haben.
Was aber wiederum mit meiner Erwartungshaltung an das Bier zu tun hat. Schaut man sich das Herbipolis Retro Lager von der Craftbier-Ecke aus an, fehlt ihm natürlich der letzte „Punch“, einfach ein wenig mehr Bittere, wie man es von Pale Ales und Imperial Pilsner vielleicht gewohnt ist. Schaut man sich das Bier jedoch aus der klassischen Lager-/Helles-Ecke an, dann freut man sich über das gelungene Hopfenaroma und die klassische Malzunterlage. Was aber das Schwierigste an der Bewertung eines Bieres wie diesem ist: Kaum einer kann sagen, wie die Lagerbiere von anno dazumal geschmeckt haben dürften. Alleine ein Bier, das zuletzt vor 70 Jahren gebraut wurde, lässt sich bestenfalls annäherungsweise rekonstruieren, selbst wenn das Rezept in allen Details bekannt wäre. Aber die Technik, die Malzeigenschaften, der Hopfen – das alles verändert sich. Und ein Biertrinker, der besagtes Bier noch aus eigener Erfahrung kennen würde, wäre heute schon weit über 80 Jahre alt. Wie nahe das Herbipolis also einem alten Lager kommt, bleibt mehr als fraglich. Aber auch irgendwie ein wenig uninteressant, denn süffig ist es auf jeden Fall!
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